Sonntag, 19. September 2010

Stahlblaue Schwingen (1)

Iron Maiden: Live After Death, 1985, Coverdesign by Derek Riggs (Copyright/derek.server311.com)


1988 war's, als F. einen Blechknopf an der Jeansjacke von D. vorfand. Darauf war ein klitzekleines Monster abgebildet, ultramarinblau, umzuckt von weißen und gelben Blitzen. Darüber ein unleserlicher Schriftzug. "Iron Maiden", erklärte D. "Was ist das?", entgegnete F. "Eine Band", setzte D. nach. "Kenne ich nicht. Was für Musik machen die?", fragte F. erneut. "Heavy Metal - bestimmt nichts für dich. - Hör mal, Du kannst aber gut zeichnen. Würdest Du mir dieses Bild vergrößern und abzeichnen?" - "Das habe ich noch nie gemacht, ich kann es aber versuchen."


Die Stundenklingel beginnt zu bimmeln, die Schüler huschen zurück an ihre Bänke. D. ist der beliebteste Schüler, der coolste der Klasse. Er hat Westklamotten an, Jeans, fetzige Shirts. Jeans mit Heavy Metal-Monstern dran. Bei den Mädchen kam er gut an, wegen seines guten Aussehens, zumindest glaubte er das. F. hingegen war ein unscheinbares Würstchen, mit zu großer Brille, Haaren, die völlig verwirbelt waren und ihm ständig ins Gesicht fielen, erste Pickel sprossen. F. war klein, schmächtig, naiv und blass. Heavy Metal, fragte F. sich. Wie mag das klingen? Warum wird auf diese Musik so ein hoher Stellenwert gelegt? 

In der DDR-Plattenbauschule, die an der heutigen Prager Straße, damals noch Leninstraße und ein belebter Ort mit vielen Läden und Ruinen war und heute eine Durchfahrstrecke mit Bürogebäuden ist, in Leipzig liegt, nun seit der Nachwendezeit für körperlich und geistig behinderte Menschen umgebaut ist, war kaum Freiraum sich zu entfalten. Im Sommer heizten sich die Betonplatten auf, im Winter war es oft kalt. F. und D.'s Klasse fand sich zum ersten Mal bei der Einschulung 1981 zusammen, schrumpfte zusehends. Neue Schüler kamen und gingen, und jeder bewunderte F.'s Zeichenkünste. "Mal dies, mal das", hieß es bei den Mitschülern. Oft versammelten sich ein paar um meine Schulbank und schauten ihm beim Zeichnen zu. Meist Rallye-Jagden und lodernde Ritterburgen. F. hat mit Zeichnen seine Kindheit gekillt. Nun passt Heavy Metal sich langsam in sein Leben an. Iron Maiden ist die erste Band, die er durch Fotos und ausgeschnittenen Bravo-Artikeln kennen lernte. 1988 das letzte Jahr, bevor die DDR sich leise verabschiedete. Die Ruhe vor dem Sturm, erstaunlich ruhige Zeit scheinbar.

Der Sommer 1988 ist F. nicht im Gedächtnis geblieben. Nur dass er während der Sommerferien in die Sowjetunion zum Ferienlager reisen durfte. Südlich von Kiew lag der Ort, in einem Kiefernwald stand ein Nobelhotel. Die letzten Wochen als Thälmannpionier. Noch keine 14 Jahre alt, erst 13. Die erste Reise, die ihn längere Zeit und am weitesten von seinem Zuhause in der Stiftsstraße führte. Mehrere Tage Zugfahrt, Heimweh. Seine Mutter hatte extra für die Reise einen schwarzen Jeansanzug gekauft, dass er cool aussehe. 

Aledebaran am Himmel, der rot seine Fahrt begleitete. Von Leipzig ging's nach Berlin. Von dort nach Frankfurt (Oder). Schon damals schmückte auf der Rückseite seines Personalausweises ein buntes Bild von den Scorpions, wie sie live on stage Posen veranstalteten, in zu engen Gymnastikhosen, blitzenden Gitarren, Lederjacken und abenteuerlichen Frisuren. Die Band galt wohl schon damals als Perestroika-Band, jedenfalls bewunderte der sowjetische Grenzoffizier das Bild, mahnte F. aber an, das bitte aus dem Dokument zu entfernen, weil man sonst sein Land nicht achten würde. 

F. verstand, und zog es aus der Hülle ehraus. Das Bild war inzwischen schon leicht fest geklebt, wodurch einige Fetzen im Ausweis hängen blieben. Dann nickte der Offizier zufrieden und stempelte den Pass ab. An der polnisch-sowjetischen Grenze mussten die Kinder und Jugendlichen umsteigen. Jedenfalls fand sich die Reisegruppe aus verschiedensten Jugendlichen und Kindern der DDR in großen und geräumigen Waggons der sowjetischen Staatsbahn wieder. Schlafwaggons, für vier ausgestattet, breite Gänge, großer Speisewagen, wo es nach Zigarettenrauch und Essen roch. Von der polnischen Grenze nach Kiew vergingen noch über 24 Stunden Fahrt. Quer durch nicht zu enden wollende Sonnenblumenfelder, dann durch ewige Birkenwälder. Getreidefelder so weit das Auge reichte. Dimensionen, die die junge Reisegruppe so aus ihren Großstadtkinderaugen nicht erfassen konnten. Eine dicke Frau rollte einen Teewagen durch die Gänge - kostenloser Tee in Teegläsern. Soviel man trinken konnte. Staatsbahnservice. Nachts strahlte Aldebaran vom Himmel, tagsüber die Sonne. 

Während ihres Aufenthaltes in dem Nobelhotel wird F. erwachsen. Oder er nähert sich einem körperlichen Zustand des Erwachsenseins. Damit einher geht auch ein wachsendes Interesse an dem was D. "Heavy Metal" damals im Klassenzimmer nannte. 

Im Ferienlager lernt F. einen Gefährten kennen, der F. was über Metal erzählte. W.A.S.P. wären die kontroversesten gewesen, wegen ihren spektakulären Bühnenshows. "Blind In Texas", ihre Macho-Hymne schießt ihm assoziativ heute noch in das Gedächtnis, wenn er an Blackie Lawless und den Beschreibungen dieses Kameraden nachverfolgen versucht, der schildert, dass Lawless mit Pferdehaarperücke, Blut und Sägeblatt im Schritt Männer wie Frauen beeindruckte. Doch es ginge auch härter. Hauptsächlich fiel der Name "Slayer", aber auch andere Bands waren darunter. Er sei noch am Anfang meiner Entdeckungsreise des Heavy Metal, meinte er, als er F.'s Erzählungen über Iron Maiden n der Bravo und Scorpions vernahm. Damals mochte F. auch Pet Shop Boys und Depeche Mode sehr gerne. Merkte aber bald, dass das vorwiegend Mädchen hörten und distanzierte sich schnell genug, bevor es peinlich wurde. Doch Popmusik fesselte ihn damals mehr. Auch wenn es nur die Suche nach etwas Anspruch war, der ihn beschäftigte. Musik als Lebensinhalt, das kannte F. vor seinem 13. Lebensjahr noch nicht. 

Was F. bis dahin auch nicht kannte, ist dass Mädchen erotisch sind, wenn sie in Nachthemden den Gang hinunter zu den Waschräumen laufen. Unter ihren weißen Rüschenhemden zeichnen sich die Nippel ihre anschwellenden Brüste an. Und was F. bis dato nicht kannte, dass man seinen Körper zu beherrschen lernen muss. Aber nachgeben war auch schön. In diesem sauberen Hotel mit seinen sterilen Zweibettzimmern, den Balkonen mit Blick auf Kiefernwipfeln - das Lager lag inmitten eines Kiefernwaldes - , seinen Fahrstühlen, den damals hochmodernen Innentoiletten und Duschen muss F. mindestens hundertmal seinen Samenergüssen erlegen sein. 

Mit 14 Jahren wird man dann auf das sozialistische Arbeitsleben vorbereitet. Zuerst FDJ, dann Einführung in die sozialistische Produktion, Produktives Arbeiten, GST. In den Unterrichtspausen ringen sich neugierige Gesichter um einen Schultisch, Bravo-Hefte blättern. Die oft abgegriffenen Seiten dieses westdeutschen Jugendmagazins zeigten uns eine andere Welt, die bunter und interessanter ist als der graue Schulalltag von 6 Uhr morgens aufstehen, mit dem Linienbus A zum "Produktiven Arbeiten" zu schaukeln, um in der Nähe der Pferderennbahn Scheibenholz Leiterplatten für Blindenklingeln zu löten oder Flaschenöffner zu feilen. Ausschuss produzieren. 

Der Sinn nach Sex, Mädchen und Musik steht den jungen Mädchen mit ihren schlecht geschminkten Gesichtern, den bunten Glitzertüchern um ihren Hälsen und den schmuddeligen und ungewaschenen Jungs schon ins Gesicht geschrieben, wenn sie müde aus den Augen schauen, sich den Schlafsand aus den Klüsen reiben, müde zur Arbeit schlurfen und sich vor allem auf den frühen Feierabend freuen, der nach dem Mittagessen auf sie wartet. Dann schnell nach Hause, Radio anschalten, Comics lesen, Milch trinken und Kekse essen. Zumindest sieht so der Tagesablauf von F. aus. Sportlich war F. nicht und ist es heute auch nicht. Doch beim Hören der Charts auf irgendeinem westdeutschen Sender, meist RIAS Berlin, schnappt F. sich Papier und Stifte, und zeichnet spontan ein krakeliges Monster aus dem Gedächtnis, das ihm D. mit seinem Button zeigte. I-R-O-N-M-A-I-D-E-N, malt F. langsam auf. Was mag das wohl heißen?