Es ist anfangs nur ein Schuh, dann kommt ein weiterer hinzu. Beide werden über die Köpfe der kreisenden Masse beim Auftritt von Heaven Shall Burn gehalten. Der Bewegungsdrang bei der thüringischen Metalcore-Gruppe ist sichtlich enorm. Ruppige Rempeleien wechseln mit Bierduschen ab. Man feiert Weihnachten im Werk II.
Das ist aber nicht immer so an diesem ersten Weihnachtsfeierabend. Die sogar aus Hessen angereisten Fans warten schon seit 16 Uhr aufgeregt auf dem kalten Pflaster des Werk II-Geländes. Aber erst gegen halb sieben beginnt der Einlass zum Weihnachtskonzert der besonderen Art. Denn die Proben ziehen sich hin. Zuletzt stehen „Deadlock“ auf der Bühne und haben den „Soundcheck“ gemacht.
Kurz nachdem sie ihre Instrumente ausschalten, öffnet sich die hölzerne Tür zum „Darkness Over-X-Mas“. Die Massen strömen Karten wedelnd in die große Halle A. In diesem Jahr geben sich fast ausschließlich so genannte Metalcore-Gruppen die Klinke in die Hand. Die großen Namen der deutschen Metalcore-Szene sind hier zu sehen: Heaven Shall Burn, Neaera und Deadlock. Zum Leidwesen vieler treten heute die ebenfalls aus Deutschland stammenden Szenelieblinge Caliban nicht auf. Die schauen sich die Show der anderen Gruppen Backstage an und werden am zweiten Weihnachtsfeiertag in Hamburg auftreten. Die Gruppe wechselt sich mit den Münsteranern von Neaera ab.
Zwei Gruppen schlagen aus der Art: Die progressiven und melodiösen Death Metaller Dark Tranquillity aus Schweden und die Bühnenpiraten aus den USA – Swashbuckle.
Die einzelnen Auftritte werden mit gemischten Gefühlen aufgenommen. So erklären Deadlock später im Interview, dass sie nur diese kurze Spielzeit von fünf Songs haben, weil ihre Freunde von Heaven Shall Burn und Caliban sie gerne mit dabei haben wollen. Dafür sorgen die sechs Veganer um die hübsche Sängerin Sabine Weniger und ihrem tief grunzenden Kompagnon Johannes Prem mit ihrem Hit „The Brave / Agony Applause“ vom letzten Album „Manifesto“ für Begeisterung. Der poppige Zauber war aber nach fünf Liedern schon vorbei, aber an den erhobenen Händen und dem Jubel kann man ablesen, dass viele Fans die sympathische Gruppe lieben. 2010 ziehen sich die sechs zum Songschreiben für ein neues Album zurück. Es wird sicher nicht überraschungslos für die Fans werden. Soviel kann schon mal gesagt werden.
Nach ihrem Auftritt entern die lustigen Amerikaner von Swashbuckle die Bühne. Im wahrsten Sinne des Wortes holzen sich die Piraten durch ihr überlanges und abwechslungsloses Liedprogramm. So sehen es ein Großteil der Leute, die mit verschränkten Armen, aber dennoch interessiert der krachigen Variante des „Thrash Metal“ lauschen. Und so langweilen sich schnell die bereits rund 800 Anwesenden im vollgepackten Auditorium mit dem Anspruch „schnell, schneller, am schnellsten“. Heute ist wohl das falsche Publikum für die schunkelnden Trinklieder anwesend. Die meisten trinken kein Alkohol, und diejenigen, die es tun, versacken am Tresen bei Jägermeister und Lesen von Lidl-Einkaufszetteln.
Das Eis bricht bei den peitschenden Rhythmen von Neaera. Sie spielen einen Mix aus extremen Hardcore Punk, Death Metal und winzigen Einsprengseln Black Metal. Mittlerweile baumelt schon das riesige Backdrop der Headliner „Heaven Shall Burn“ an der Bühne. Das verspricht schon vieles. Doch die Gäste müssen warten. Inzwischen reißen Neaera das Ruder vom amerikanischen Schlingerkurs zu ihrem Gunsten um, erste Männlein und Weiblein surfen schon auf den Händen des Publikums durch den Saal. Die trampelnde Herde rast einen Kreis vor der Bühne oder rennt wild umherspringend aufeinander zu. Metalcore ist halt kein Pantoffelkino. Erste blutende Schürfwunden sind bei so manchem zu erkennen. Rücksicht sieht anders aus.
Die jungen Leute – zwischen 16 und 20 Lenzen – können bei den stimmungsvollen Schweden von Dark Tranquillity aufatmen. Ärgerlich für manche Fans ist nur, wie gleichgültig die intelligent gestrickte Musik von vielen Anwesenden aufgenommen wird. „Was ist das für eine hässliche Frau, die da vorne singt?“, so das plumpe Understatement so manchen angesichts der blonden Lockenpracht des Sängers Mikael Stanne. Doch hier und da wippen einige mit dem Fuß und öffnen sich für die erzählerische Kraft ihrer schon literarisch wertvollen Texte und den einfallsreichen Kompositionen. Dark Tranquillity erspielen sich Lied für Lied Respekt und bedanken sich zum Abschluss mit einem lautstarken „Leipzig is great“.
Die Anzahl der T-Shirts mit dem Schriftzug des Bandnamens ist inzwischen schier unübersichtlich. Hier sind die meisten nur wegen Heaven Shall Burn gekommen. Nach einer längeren Pause verdunkelt sich das Saallicht wieder, dann geht die japanische Sonne auf. Das Intro „Awoken“ ihres neuen Albums „Iconoclast“ eröffnet den munteren Reigen, der schon bei Neaera begann. Mit einer eindrucksvollen Lichtshow und der weißen Bühnengestaltung mit dem CD-Artwork von Bastian Sobtzick wird der Status von Heaven Shall Burn optisch unterstrichen. Wie ein wirbelnder Derwisch mischt der weiß gekleidete Sänger Marcus Bischoff die Fans auf, fordert sie bei den todesbleiernen Stakkato-Riffs auf, im Kreis zu rennen und gehörig umher zu springen. Nun verdoppelt sich die Anzahl der „Crowdsurfer“ bei aktuellen Liedern wie „Endzeit“ und der Coverversion „Black Tears“ von der schwedischen Death Metal-Band „Edge Of Sanity“. Letzteres wurde als Zugabe gespielt, nachdem einige Anwesende ihre Schuhe verloren und Bierduschen abbekommen haben. Die außer Rand und Band geratenen Fans feiern während des fast anderthalbstündigen Auftritts auch die älteren Hits wie „Counterweight“.
Viertel zwölf war der Zauber vorbei, die verschwitzten und erschöpften Massen strömen mit der wohl schönsten Weihnachtserinnerung in die milde Weihnachtsnacht. An der Straßenbahnhaltestelle am Kreuz wird auch der junge Mann gesichtet, der seine Schuhe beim Kreislaufen verloren hat. Barfüßig und ohne Socken sitzt er auf der kalten Stahlbank und wartet auf die Linie 11, die ihn zum Bahnhof bringen wird. So mancher wird auch an diesem Abend seine Wunden lecken und überlegen, ob manche mit dem Umherspringen übertreiben und mit ihren unkontrollierten Faustschlägen und Fußtritten anderen ein Konzerterlebnis vermiesen.
Fotos von Tine Kersten
Fotos von Tine Kersten
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